Insel-Tagebuch
Der Fahrtwind treibt Regen gegen die Zugscheiben. Seine Tropfen zerplatzen und eilen in dünnen Schlieren die Scheiben herunter. Im Glas spiegelt sich Erikas Gesicht, das Gesicht einer nicht mehr ganz jungen Frau, brünett, zu dick. Hinter dem Spiegelbild flitzen Flußläufe und grüne Wiesen vorbei. Fruchtbares Land mit Kühen und Schafherden.
Erika sieht nur sich selbst.
Sie fällt durchs Raster, versinkt. Kein Anker. Früher dachte sie, sie würde Bücher schreiben. Jetzt ist sie nur noch arbeitslos. Alles zieht sich um sie zusammen und erdrückt sie. Sie kann nicht mehr schlafen. Erwacht jeden Morgen gegen vier und kann nicht schlafen. Dabei ist sie so müde.
Auf dem Bahnhof von Westerland regnet es immer noch. Dicke, fette Tropfen fallen auf das blondgelockte Haar von Erikas Mutter und vom Haar auf den hellen Sommermantel, den sie trägt.
Klaus entdeckt Erika als Erster. Hastig winkt er sie zu sich und seiner Frau heran. „Du hast Verspätung.“ Er klingt vorwurfsvoll.
„Klaus versteht auch nicht, warum du bei der Zeitung weggegangen bist“, sagt Erikas Mutter, als die drei das Ferienappartement erreichen. „Tu endlich was.“
„Sie kann immer noch heiraten.“ Klaus verstaut Erikas Reisetasche hinter dem Sofa im Wohnzimmer des Appartements.
„Auspacken tust du heute abend“, bestimmt er. „Dann stört es niemanden.“
Erika fügt sich und plumpst in einen braunen Ledersessel, aber Mutter scheucht sie hoch. „Das ist Klaus` Platz.“
Erika wechselt zu einem anderen Ledersessel. Ich werde versuchen, es ihnen zu erklären, denkt sie. Ich werde Ihnen sagen, dass ich darüber verrückt werde, über mich verrückt werde, aber ich kann nicht anders. Nie mehr wiedergekäute Wirklichkeit. Ich muß in der Fantasie schwimmen, tauchen, nach Schätzen, manchmal in die Irre. Wenn sie es verstehen, vielleicht verzeihe ich mir dann.
„Oder mach was anderes“, sagt Mutter. „Es gibt so schöne Berufe.“
„Ich kann nichts anderes machen.“ In Erika schwingen die Worte, sie ist sicher, sie kann sich erklären.
Klaus unterbricht sie: „Du willst nicht. Dabei hat deine Mutter recht, es gibt so schöne Berufe. Du bekommst doch schon Hartz IV, oder?“
Seit drei Jahren bekommt sie es schon. Seit vier Jahren ist sie arbeitslos. Seit sie von der Zeitung weggegangen ist - auf ihr Talent vertraute, Bücher zu schreiben, die gedruckt und bezahlt werden. Sie sieht Klaus ins Gesicht, sieht die Ungeduld in seinen Augen, sein Nicht-Begreifen-Wollen. Ihre schwingenden Worte machen sich davon. Statt dessen steigt Scham in ihr auf. Das Gefühl kriecht unter die Haut und dünstet in Wolken aus ihren Poren. Nach und nach füllt sich das Ferienappartement mit Scham. Sie verschwindet darin, wird unsichtbar.
Das Leben ist eine Scheibe, und wir stehen auf ihr. Wenn sich die Scheibe anfängt zu drehen, immer schneller, setzt die Fliehkraft ein. So schnell dreht sich die Scheibe, dass sich niemand auf ihr halten kann. Selbst die, die nicht daran glauben, schleudert es herunter.
„Ich will zum Wasser“, sagt Erika.
Klaus schweigt mißbilligend. Er wartet noch auf eine Antwort von ihr. Mutters Blick fliegt zwischen Tochter und Klaus hin und her.
Erika reißt ihre Jacke vom Hacken. „Tschüss.“
Draußen blühen wilde Rosen im Regen. Ihr Duft gleicht einem Willkommen. Das Häuschen, an dem tagsüber die Kurtaxe bezahlt wird, ist nicht mehr besetzt. Erika steigt die Dünen hinauf. Sie sieht das Meer und hört den Wind.
Stapft durch den Sand zum Wasser. Noch viel lauter brüllt es hier und saust und tost. Das Meer wartet auf Erika. Sie weiß es, und das Meer weiß es auch. Es ist, als fange das Meer sie auf, als nehme es sie in seine kräftigen Arme und liebkose sie. Sie will hinein ins Wasser. Tiefer. Weiter. Will sich umspielen lassen. Alles wäscht sich weg, sie wird Kind. Rein und unschuldig. Niemand denkt schlecht über sie, nicht einmal sie selbst.
Wasser hilft.
Das war schon immer so. Wenn sie alles falsch gemacht hatte, und ihr Vater, ihr richtiger Vater, nicht Klaus, sie schlug, überall und immer wieder, und Mutter nur dabeistand, rannte sie ins Badezimmer, sobald er sie nicht mehr festhielt. Es war ein blauweiß gekacheltes Bad, und man konnte die Tür verschließen. Das Badezimmer war der einzige Raum, in dem das ging. Manchmal schob sie noch die kleine Kommode vor die Tür. Sie ließ Wasser in die Wanne laufen, weinte mit dem warmen Strahl, der aus dem Hahn schoß, machte ihn heißer und heißer. Hörte, wie ihr Vater an der Tür rüttelte und schrie. Schnell stieg sie ins Wasser, angezogen wie sie war, und tauchte unter. Die Welt entfernte sich, wurde verschwommen und stumm. Sie probierte, wie lange es ein Mensch unter Wasser aushalten konnte. Mit aufgerissenen Augen, die Nase mit den Fingern zugeklemmt.
Unvermittelt kommt der Haß. Verbrennen von innen. Kaum auszuhalten. L`enfer, c´est les autres – nein, das sind wir schon selber, möchte sie übers Meer schreien. Es verkohlt sie von innen, jemand gießt glühendes Metall in sie hinein.
Der Haß treibt sie ins Wasser. Sie geht wirklich. Es regnet immer noch, und sie geht in Jeans und Windjacke ins Wasser. Vielleicht nur, damit das innere Brennen aufhört. Bis zu den Knien steht sie im Meer. Plötzlich sind überall Feuerquallen. Orangeweiße Glibberhüte mit langen Fäden, die tief ins Wasser hineinhängen. Wenn diese Glibberwesen in ihr Hosenbein treiben! Ekel bringt sie zurück. Sie jagt aus dem Wasser, hat nasse Hosenbeine bis zu den Knien, und der Wind zerrt an ihr.
Sie ist wieder im Ferienappartement von Mutter und Klaus. Keiner von beiden ist da. Rasch zerrt sie eine neue Hose aus der Reisetasche und hängt die nasse ins Bad.
Später, beim Abendbrot fragt Klaus: „Warst du im Wasser?“ Mit Jeans ins Wasser! steht vorwurfsvoll in seinen Augen.
„Laß das Mädchen in Ruhe,“ sagt Mutter scharf. „Was verstehst du schon? Erika freut sich eben, dass sie am Meer ist, nicht wahr?“ Sie holt sich ein Nicken von ihrer Tochter. „Du verstehst gar nichts“, schließt sie mit einem bösen Blick auf ihren Mann.
Sie muß sich mit Klaus gestritten haben, wenn sie mich so verteidigt, denkt Erika.
Am nächsten Morgen gehorcht Mutter Klaus wieder, und Erika darf nicht duschen, weil Klaus nicht will, dass morgens geduscht wird. Sonst steht den ganzen Tag der Wasserdampf im Bad, sagt er. Schließlich habe es keine Fenster, nur einen Abzug. Erika hat keine Kraft, um die Dusche zu kämpfen. Seit vier Uhr lag sie wach, ihre Organe zu einem großen Klumpen zusammengeschnürt.
Nach dem Frühstück nimmt Klaus Erika beiseite. „Weißt du, wieviel Sorgen deine Mutter sich deinetwegen macht?“ Er klingt, als sei Erika für jede Sorge ihrer Mutter persönlich verantwortlich.
Wenig später ist Mutter mit ihr allein.
„Klaus sorgt sich wirklich um dich.“ Sie klingt, als sei sie stolz auf Klaus, weil er fähig ist, sich zu sorgen.
Dann dreht der Wind. Es wird heiß. Zu dritt fahren sie zum Nacktbadestrand. Mutter und Klaus gehen immer nackt baden, deshalb muß Erika es auch tun. Selbst wenn Klaus über ihre Figur herfällt. Sie fühlt sich schon lange nicht mehr als Frau. Ihre letzte Liebe ist fünf Jahr her, seitdem hat sie zehn Kilo zugenommen.
Im Wasser sind die Feuerquallen verschwunden, wie es der Wetterbericht versprochen hat. Dafür sind die Wellen höher. Da hinten ist es richtig gefährlich. Mutter zeigt den Strand hinunter. Da soll Erika auf keinen Fall ins Wasser. Hat sie verstanden?
„Mäuschen?“, fragt Mutter, und Erika rückt ein Stück weg.
Jetzt erzählt Mutter. Von Klaus und sich und immer wieder von Klaus. Von seinen Krankheiten, seinen krankhaften Gefühlen, von seiner Kindheit. Von allem, was er ihr antut und wofür er nichts kann. Erika bemüht sich, nicht zuzuhören. Endlich steht Mutter auf, klopft sich den Sand von den nackten Pobacken und stapft zu Klaus zurück.
Der Strand zieht sich endlos.
Seit Mutter gegangen ist, spürt sich Erika nicht mehr. Es ist, als habe Mutter alle Gefühle mitgenommen. Automatisch setzt sie einen Fuß vor den anderen. Sie ist aus dem Raster gefallen. Selbst schuld. Warum ist sie weg von der Zeitung. Vertraute ihrem Talent, oder dem, was sie dafür hielt. Weiter draußen gehen die Wellen hoch. Mutter hat recht, hier sollte niemand ins Wasser gehen. Das Meer ist kalt. Je weiter Erika hinein watet, desto mehr Gefühl kehrt zurück. Erst an ihren Füßen, dann an ihren Waden und Oberschenkeln. Es ist unmöglich, in kaltem Meerwasser zu waten und nichts zu fühlen. Die Wellen donnern auf sie zu und reißen sie fast um. Der Sand unter ihren Füßen schwindet, aber noch steht Erika. Wieder donnern die Wellen. Erika sieht sie kommen. Diesmal sind sie zu hoch. Diesmal, das weiß Erika, werden sie sie umreißen.
„Erika!“ Sie hört die Stimme von Klaus hinter sich. „Erika!“ ruft er noch einmal. „Komm raus!“ Seine befehlsgewohnte Stimme treibt die junge Frau tiefer ins Wasser.
Schon sind die Wellen da. Das Wasser schlägt über ihr zusammen. Verschluckt sie und drückt sie zu Boden. Klaus ist nicht mehr zu hören. Sie reißt die Augen auf. Grün, alles ist grün und grau. Sie bekommt keine Luft mehr, atmet unter Wasser. Das Meer quillt in ihre Lungen. Der Sog schiebt sie über den Meeresboden, Knie und Handflächen schürfen auf. Da greifen kräftige Arme nach ihr. Klaus ist da. Er muß ins Wasser gewatet sein, hierher, an die Stelle, an der es am gefährlichsten ist, und er hält sie, ist größer und schwerer als sie trotz ihrer Pfunde. Er hat sie zu fassen bekommen und hält sie fest. Noch mehr Hände, Arme, schließlich Gesichter. Erika ist zurück an der Oberfläche. Sie keucht und spuckt. Drei Männer sind es, die sie retten. Klaus und der Bademeister und ein anderer Feriengast.
Sie liegt auf dem Sand. Mutter beugt sich über sie. Erika fühlt Tränen auf ihr Gesicht tropfen, aber sie hält die Augen fest geschlossen.
Beim Abschied am Bahnhof weint Mutter wieder. Erika versteht nicht, warum. Warum weint sie, Erika fährt doch weg. Sie hat den beiden genug Ärger gemacht. Das hat Mutter am Abend nach ihrem Unfall gesagt. Einen Unfall haben es alle genannt. Erika weiß, dass es nicht stimmt, und deshalb sie fürchtet sich jetzt noch mehr. Wiesen und Kühe ziehen an ihr vorbei, und sie fürchtet sich vor sich selber.
aus:
Terror - Umarmung des Bösen
Anthologie der Autoren 2
Web-Site-Verlag, 2004
ISBN: 3-935982-17-8
auch bei Amazon
Der Fahrtwind treibt Regen gegen die Zugscheiben. Seine Tropfen zerplatzen und eilen in dünnen Schlieren die Scheiben herunter. Im Glas spiegelt sich Erikas Gesicht, das Gesicht einer nicht mehr ganz jungen Frau, brünett, zu dick. Hinter dem Spiegelbild flitzen Flußläufe und grüne Wiesen vorbei. Fruchtbares Land mit Kühen und Schafherden.
Erika sieht nur sich selbst.
Sie fällt durchs Raster, versinkt. Kein Anker. Früher dachte sie, sie würde Bücher schreiben. Jetzt ist sie nur noch arbeitslos. Alles zieht sich um sie zusammen und erdrückt sie. Sie kann nicht mehr schlafen. Erwacht jeden Morgen gegen vier und kann nicht schlafen. Dabei ist sie so müde.
Auf dem Bahnhof von Westerland regnet es immer noch. Dicke, fette Tropfen fallen auf das blondgelockte Haar von Erikas Mutter und vom Haar auf den hellen Sommermantel, den sie trägt.
Klaus entdeckt Erika als Erster. Hastig winkt er sie zu sich und seiner Frau heran. „Du hast Verspätung.“ Er klingt vorwurfsvoll.
„Klaus versteht auch nicht, warum du bei der Zeitung weggegangen bist“, sagt Erikas Mutter, als die drei das Ferienappartement erreichen. „Tu endlich was.“
„Sie kann immer noch heiraten.“ Klaus verstaut Erikas Reisetasche hinter dem Sofa im Wohnzimmer des Appartements.
„Auspacken tust du heute abend“, bestimmt er. „Dann stört es niemanden.“
Erika fügt sich und plumpst in einen braunen Ledersessel, aber Mutter scheucht sie hoch. „Das ist Klaus` Platz.“
Erika wechselt zu einem anderen Ledersessel. Ich werde versuchen, es ihnen zu erklären, denkt sie. Ich werde Ihnen sagen, dass ich darüber verrückt werde, über mich verrückt werde, aber ich kann nicht anders. Nie mehr wiedergekäute Wirklichkeit. Ich muß in der Fantasie schwimmen, tauchen, nach Schätzen, manchmal in die Irre. Wenn sie es verstehen, vielleicht verzeihe ich mir dann.
„Oder mach was anderes“, sagt Mutter. „Es gibt so schöne Berufe.“
„Ich kann nichts anderes machen.“ In Erika schwingen die Worte, sie ist sicher, sie kann sich erklären.
Klaus unterbricht sie: „Du willst nicht. Dabei hat deine Mutter recht, es gibt so schöne Berufe. Du bekommst doch schon Hartz IV, oder?“
Seit drei Jahren bekommt sie es schon. Seit vier Jahren ist sie arbeitslos. Seit sie von der Zeitung weggegangen ist - auf ihr Talent vertraute, Bücher zu schreiben, die gedruckt und bezahlt werden. Sie sieht Klaus ins Gesicht, sieht die Ungeduld in seinen Augen, sein Nicht-Begreifen-Wollen. Ihre schwingenden Worte machen sich davon. Statt dessen steigt Scham in ihr auf. Das Gefühl kriecht unter die Haut und dünstet in Wolken aus ihren Poren. Nach und nach füllt sich das Ferienappartement mit Scham. Sie verschwindet darin, wird unsichtbar.
Das Leben ist eine Scheibe, und wir stehen auf ihr. Wenn sich die Scheibe anfängt zu drehen, immer schneller, setzt die Fliehkraft ein. So schnell dreht sich die Scheibe, dass sich niemand auf ihr halten kann. Selbst die, die nicht daran glauben, schleudert es herunter.
„Ich will zum Wasser“, sagt Erika.
Klaus schweigt mißbilligend. Er wartet noch auf eine Antwort von ihr. Mutters Blick fliegt zwischen Tochter und Klaus hin und her.
Erika reißt ihre Jacke vom Hacken. „Tschüss.“
Draußen blühen wilde Rosen im Regen. Ihr Duft gleicht einem Willkommen. Das Häuschen, an dem tagsüber die Kurtaxe bezahlt wird, ist nicht mehr besetzt. Erika steigt die Dünen hinauf. Sie sieht das Meer und hört den Wind.
Stapft durch den Sand zum Wasser. Noch viel lauter brüllt es hier und saust und tost. Das Meer wartet auf Erika. Sie weiß es, und das Meer weiß es auch. Es ist, als fange das Meer sie auf, als nehme es sie in seine kräftigen Arme und liebkose sie. Sie will hinein ins Wasser. Tiefer. Weiter. Will sich umspielen lassen. Alles wäscht sich weg, sie wird Kind. Rein und unschuldig. Niemand denkt schlecht über sie, nicht einmal sie selbst.
Wasser hilft.
Das war schon immer so. Wenn sie alles falsch gemacht hatte, und ihr Vater, ihr richtiger Vater, nicht Klaus, sie schlug, überall und immer wieder, und Mutter nur dabeistand, rannte sie ins Badezimmer, sobald er sie nicht mehr festhielt. Es war ein blauweiß gekacheltes Bad, und man konnte die Tür verschließen. Das Badezimmer war der einzige Raum, in dem das ging. Manchmal schob sie noch die kleine Kommode vor die Tür. Sie ließ Wasser in die Wanne laufen, weinte mit dem warmen Strahl, der aus dem Hahn schoß, machte ihn heißer und heißer. Hörte, wie ihr Vater an der Tür rüttelte und schrie. Schnell stieg sie ins Wasser, angezogen wie sie war, und tauchte unter. Die Welt entfernte sich, wurde verschwommen und stumm. Sie probierte, wie lange es ein Mensch unter Wasser aushalten konnte. Mit aufgerissenen Augen, die Nase mit den Fingern zugeklemmt.
Unvermittelt kommt der Haß. Verbrennen von innen. Kaum auszuhalten. L`enfer, c´est les autres – nein, das sind wir schon selber, möchte sie übers Meer schreien. Es verkohlt sie von innen, jemand gießt glühendes Metall in sie hinein.
Der Haß treibt sie ins Wasser. Sie geht wirklich. Es regnet immer noch, und sie geht in Jeans und Windjacke ins Wasser. Vielleicht nur, damit das innere Brennen aufhört. Bis zu den Knien steht sie im Meer. Plötzlich sind überall Feuerquallen. Orangeweiße Glibberhüte mit langen Fäden, die tief ins Wasser hineinhängen. Wenn diese Glibberwesen in ihr Hosenbein treiben! Ekel bringt sie zurück. Sie jagt aus dem Wasser, hat nasse Hosenbeine bis zu den Knien, und der Wind zerrt an ihr.
Sie ist wieder im Ferienappartement von Mutter und Klaus. Keiner von beiden ist da. Rasch zerrt sie eine neue Hose aus der Reisetasche und hängt die nasse ins Bad.
Später, beim Abendbrot fragt Klaus: „Warst du im Wasser?“ Mit Jeans ins Wasser! steht vorwurfsvoll in seinen Augen.
„Laß das Mädchen in Ruhe,“ sagt Mutter scharf. „Was verstehst du schon? Erika freut sich eben, dass sie am Meer ist, nicht wahr?“ Sie holt sich ein Nicken von ihrer Tochter. „Du verstehst gar nichts“, schließt sie mit einem bösen Blick auf ihren Mann.
Sie muß sich mit Klaus gestritten haben, wenn sie mich so verteidigt, denkt Erika.
Am nächsten Morgen gehorcht Mutter Klaus wieder, und Erika darf nicht duschen, weil Klaus nicht will, dass morgens geduscht wird. Sonst steht den ganzen Tag der Wasserdampf im Bad, sagt er. Schließlich habe es keine Fenster, nur einen Abzug. Erika hat keine Kraft, um die Dusche zu kämpfen. Seit vier Uhr lag sie wach, ihre Organe zu einem großen Klumpen zusammengeschnürt.
Nach dem Frühstück nimmt Klaus Erika beiseite. „Weißt du, wieviel Sorgen deine Mutter sich deinetwegen macht?“ Er klingt, als sei Erika für jede Sorge ihrer Mutter persönlich verantwortlich.
Wenig später ist Mutter mit ihr allein.
„Klaus sorgt sich wirklich um dich.“ Sie klingt, als sei sie stolz auf Klaus, weil er fähig ist, sich zu sorgen.
Dann dreht der Wind. Es wird heiß. Zu dritt fahren sie zum Nacktbadestrand. Mutter und Klaus gehen immer nackt baden, deshalb muß Erika es auch tun. Selbst wenn Klaus über ihre Figur herfällt. Sie fühlt sich schon lange nicht mehr als Frau. Ihre letzte Liebe ist fünf Jahr her, seitdem hat sie zehn Kilo zugenommen.
Im Wasser sind die Feuerquallen verschwunden, wie es der Wetterbericht versprochen hat. Dafür sind die Wellen höher. Da hinten ist es richtig gefährlich. Mutter zeigt den Strand hinunter. Da soll Erika auf keinen Fall ins Wasser. Hat sie verstanden?
„Mäuschen?“, fragt Mutter, und Erika rückt ein Stück weg.
Jetzt erzählt Mutter. Von Klaus und sich und immer wieder von Klaus. Von seinen Krankheiten, seinen krankhaften Gefühlen, von seiner Kindheit. Von allem, was er ihr antut und wofür er nichts kann. Erika bemüht sich, nicht zuzuhören. Endlich steht Mutter auf, klopft sich den Sand von den nackten Pobacken und stapft zu Klaus zurück.
Der Strand zieht sich endlos.
Seit Mutter gegangen ist, spürt sich Erika nicht mehr. Es ist, als habe Mutter alle Gefühle mitgenommen. Automatisch setzt sie einen Fuß vor den anderen. Sie ist aus dem Raster gefallen. Selbst schuld. Warum ist sie weg von der Zeitung. Vertraute ihrem Talent, oder dem, was sie dafür hielt. Weiter draußen gehen die Wellen hoch. Mutter hat recht, hier sollte niemand ins Wasser gehen. Das Meer ist kalt. Je weiter Erika hinein watet, desto mehr Gefühl kehrt zurück. Erst an ihren Füßen, dann an ihren Waden und Oberschenkeln. Es ist unmöglich, in kaltem Meerwasser zu waten und nichts zu fühlen. Die Wellen donnern auf sie zu und reißen sie fast um. Der Sand unter ihren Füßen schwindet, aber noch steht Erika. Wieder donnern die Wellen. Erika sieht sie kommen. Diesmal sind sie zu hoch. Diesmal, das weiß Erika, werden sie sie umreißen.
„Erika!“ Sie hört die Stimme von Klaus hinter sich. „Erika!“ ruft er noch einmal. „Komm raus!“ Seine befehlsgewohnte Stimme treibt die junge Frau tiefer ins Wasser.
Schon sind die Wellen da. Das Wasser schlägt über ihr zusammen. Verschluckt sie und drückt sie zu Boden. Klaus ist nicht mehr zu hören. Sie reißt die Augen auf. Grün, alles ist grün und grau. Sie bekommt keine Luft mehr, atmet unter Wasser. Das Meer quillt in ihre Lungen. Der Sog schiebt sie über den Meeresboden, Knie und Handflächen schürfen auf. Da greifen kräftige Arme nach ihr. Klaus ist da. Er muß ins Wasser gewatet sein, hierher, an die Stelle, an der es am gefährlichsten ist, und er hält sie, ist größer und schwerer als sie trotz ihrer Pfunde. Er hat sie zu fassen bekommen und hält sie fest. Noch mehr Hände, Arme, schließlich Gesichter. Erika ist zurück an der Oberfläche. Sie keucht und spuckt. Drei Männer sind es, die sie retten. Klaus und der Bademeister und ein anderer Feriengast.
Sie liegt auf dem Sand. Mutter beugt sich über sie. Erika fühlt Tränen auf ihr Gesicht tropfen, aber sie hält die Augen fest geschlossen.
Beim Abschied am Bahnhof weint Mutter wieder. Erika versteht nicht, warum. Warum weint sie, Erika fährt doch weg. Sie hat den beiden genug Ärger gemacht. Das hat Mutter am Abend nach ihrem Unfall gesagt. Einen Unfall haben es alle genannt. Erika weiß, dass es nicht stimmt, und deshalb sie fürchtet sich jetzt noch mehr. Wiesen und Kühe ziehen an ihr vorbei, und sie fürchtet sich vor sich selber.
aus:
Terror - Umarmung des Bösen
Anthologie der Autoren 2
Web-Site-Verlag, 2004
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