In der Trivialität wird viel mit Handlungssegmenten gearbeitet. Figuren werden hier sehr stark unter dem Aspekt ihrer Funktion gesehen. Sie müssen in bestimmte Handlungssegmente passen, eben genauso handeln wie vorgesehen, damit die Regeln der Trivialität - z.B. das Happy-End - eingehalten werden.
Ich habe nichts gegen Happy-Endings, bitte verstehen Sie mich nicht falsch.
Ich habe nur etwas dagegen, Figuren zu brechen. Ich habe etwas dagegen, Figuren so handeln zu lassen, wie die Plotline es vorgibt, obwohl ich merke, dass die Figur sich dagegen wehrt - und der Plot von einer überraschenden Wende enorm profitieren könnte.
So etwas gibt es nicht, meinen Sie? Figuren können sich nicht wehren, schließlich sind sie nur Fantasieprodukte?
Es hängt von Ihnen als Autor oder Autorin ab, wie lebendig Ihre Figuren werden. Schließlich erschaffen Sie sie.
Falls Sie meine Kurse kennen, haben Sie von Lajos Egri gehört. Für alle, die ihn nicht kennen: Egri hat zwei wichtige Bücher über das Schreiben verfasst. Sie heißen "Dramatisches Schreiben" und "Literarisches Schreiben". Er gilt als Vater der Prämisse, über die ich hier aber nicht reden werde.
In diesem Text geht es - wie gesagt - um Figuren.
Lebendige Figuren haben ein Leben vor der Geschichte und nach ihr. Der Leser hat den Eindruck, er könne ihnen auch außerhalb der Geschichte, mitten auf der Straße, begegnen.
Das Gegenteil sind Figuren, die nur für die Geschichte existieren. Ein Beispiel? "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" gehört sicher dazu.
Egri sagt, dass lebendige Figuren Dreidimensionalität brauchen. Sie brauchen eine Physis (ein Äußeres), eine Psyche (ein Inneres) und die sogenannte soziale Dimension (eine Biografie).
Diese drei Dimensionen müssen Sie als Autor oder Autorin erschaffen.
In einer Geschichte können wir keine Realität abbilden, da die zu vielschichtig ist. Daher strebt eine gute Gedichte eher in die Tiefe als in die Breite.
Das Gleiche gilt für die Figuren einer Geschichte.
Sie können nie so differenziert sein, wie wir Menschen es sind. Daher entwickeln wir auch die Figuren eher in die Tiefe als in die Breite.
Das heißt: Die drei geforderten Dimensionen von Egri ziehen die Figuren nicht auseinander. Im Gegenteil, sie schmieden sie zusammen.
Die drei Dimensionen ergänzen einander.
Ich liebe das Beispiel von Käpt`n Ahab aus dem Roman "Moby Dick" von Melville.
Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an den Käpt`n aus dem Roman denken, wenn Sie ihn auf sich zuhinken sehen?
Natürlich, das Bein.
Einige von Ihnen mögen an dieser Stelle denken: das Holzbein.
Aber nein, es ist kein Holzbein - das Bein ist geschnitzt aus dem Kieferknochen eines Walfisches.
Das ist die äußere Dimension.
Ganz ermessen können Sie die soziale Dimension nur, wenn Sie das Buch gelesen haben.
Der Film deutet diese Dimension nur an.
Ahab stammt von der Insel Nantucket, wo die amerikanische Walfangtradition ihren Ursprung hat. Seine Eltern waren Walfänger, natürlich fährt er zur See und ernährt Frau und Kind durch den Walfang.
Bevor wir ihn im Roman kennenlernen, hat er bereits sein Bein an den weißen Wal verloren.
Und seine Psyche?
Er hasst den weißen Wal und will sich rächen.
Hier ergänzen sich die drei Dimensionen eindrucksvoll.
Neben diesen drei Dimensionen möchte ich Ihnen noch zwei Tipps für Ihre Figurenarbeit mit auf den Weg geben.
1. Ich rate Autoren und Autorinnen immer, eine Biografie zu schreiben - je wichtiger die Figur ist, desto mehr müssen Sie wissen.
2. Und ich rate zu einem Gespräch mit Ihrer Figur, das Sie aufschreiben sollten.
Interessant wird es vor allem dann, wenn die Figur auf Ihre Fragen pampig reagiert oder Sie sogar anlügt.
Passiert Ihnen das, wissen Sie, dass hier eine Geschichte lauern kann.
Ich weiß, das ist viel Arbeit.
Die us-amerikanische Dramaturgin Linda Seger hat für die Figurenentwicklung das Bild von einem Eisberg benutzt.
Der Leser erfährt von dem, was der Autor über seine Figuren weiß, gerade mal das, was er von einem Eisberg sehen würde, der auf ihn zutreibt.
Der Autor oder die Autorin allerdings, kennen auch den Teil des Eisberges, der unterhalb der Wasseroberfläche liegt, sehr genau.
Sorgfältig entworfene Figuren dümpeln nicht vor sich hin.
Sie haben einen deutlich erkennbaren, eigenen Willen und der macht sie lebendig.
Eine lebendige Figur kann im Zweifelsfall einen schwachen Plot retten - und die Geschichte im Lesergedächnis unvergeßlich machen.