Leseprobe des Artikels:
Mehr als Herz und Schmerz
Wie Liebesgeschichten gelingen
Was ist eine Liebesgeschichte?
Das Sachwörterbuch der Literatur von Gero von Wilpert sagt dazu: „Liebesroman I. Unter stofflichem Aspekt jeder Roman, dessen zentrales Thema die Liebe bildet ...“
In der Liebesgeschichte verlieben sich also zwei Menschen.
Aber - und dieses aber ist wichtig: Ihrer Verbindung steht irgendein Hindernis entgegen. Im klassischen Drama und manchmal auch in der Soap glauben sie zum Beispiel Bruder und Schwester zu sein und das Inzest-Tabu zu verletzen. Oder ihre Familien liegen im Streit. In zeitgenössischen Erzählungen missverstehen sie sich einfach nur oder werden durch gesellschaftliche Vorurteile - etwa gegen gleichgeschlechtliche oder gemischt rassige Paare – entzweit. Manchmal ist noch ein Dritter - oder sogar ein Vierter, Fünfter - im Spiel, der die Zweisamkeit gehörig durcheinander bringt.
Liebesgeschichten werden als Tragödien bezeichnet, wenn die Liebenden und die sie umgebende Gemeinschaft keine Möglichkeit finden, die Liebe innerhalb der Gemeinschaft wachsen zu lassen. Um eine Komödie handelt es sich, wenn es am Schluss zu einer Hochzeit oder sonstigen Vereinigung kommt, die nicht nur die Liebenden, sondern auch die Gemeinschaft eint.
Soweit die Handlung.
Das Spektrum für Liebesgeschichten ist breit. Es reicht von guter Unterhaltungsliteratur bis zu dem, was man als literarisch anspruchsvoll bezeichnet. Natürlich ist auch das Triviale vertreten, mehr als die Hälfte aller Heftromane sind Liebesgeschichten. Und so fährt Gero von Wilpert fort: „Liebesroman II. im engeren Sinne die häufigste Gattung der Trivialliteratur für weibliche Leser, die meist aus der Sicht einer klischeehaften Heldin in typisierten Figuren und Geschehnissen, mit einer kitschigen falschen Innerlichkeit und einer preziös gespreizten, dem Banalen poetischen Anstrich verleihenden Sprache die Geschichte einer Liebe bis zum stereotypen, unvermeidlichen und unrealistischen happy end erzählt.“ Wer (trotz Wilpert) trivial sein möchte, der sei auf das Buch „Heftromane schreiben & veröffentlichen“ von Anna Basener verwiesen.
Dieser Artikel setzt der Liebesgeschichte nicht so enge Grenzen, wie Redakteure von Heftromanen das tun müssen. Sie sind gezwungen, jede Woche ein vorgegebenes Schema wieder neu auszufüllen. Aber nicht jede Liebesgeschichte muss als Heftroman gedruckt werden. Machen wir uns also frei von dem Trivialen und seinen engen Grenzen - und folgen für einen Augenblick Aristoteles. Nach ihm gibt es zwei Arten von Geschichten. Die eine ist figurenorientiert, die andere handlungsorientiert. Die Handlung einer Liebesgeschichte kennen wir schon: Zwei treffen sich, haben Probleme, bekommen sich – oder eben nicht. Das ist der Plot, und bei dem können Sie sich soviel Mühe geben, wie Sie wollen - oder wie Ronald B. Tobias es ausdrückt: „Sie können sich einen Plot mit allen Tricks und Kniffen ausdenken – solange Ihre Liebenden nicht überzeugend wirken, fallen Sie damit auf die Nase.“ Und: „Eine Liebesgeschichte funktioniert, wenn die Chemie zwischen den Liebenden stimmt.“
Was schließen wir daraus?
Eine gute Liebesgeschichte ist nicht handlungsorientiert. Nein, eine gute Liebesgeschichte ist figurenorientiert. Auf die Figuren kommt es an. Daher ist es in diesem Genre besonders wichtig, Figuren sorgfältig zu entwickeln. Wir müssen wissen, woher unsere Figuren kommen und wer sie sind, damit wir wissen, wohin sie wollen und wen sie anziehend finden. Lajos Egri hat mit seiner Idee von der Dreidimensionalität gezeigt, wie Figuren entwickelt werden können. Diese Dreidimensionalität umfasst die Physis, die Psyche und das soziale Umfeld der Figur.
Was bedeutet das?
Schauen wir uns eines der bekanntesten Liebespaare der Unterhaltungsliteratur an: Scarlett O`Hara und Rhett Butler aus „Vom Winde verweht“ von Margaret Mitchell. Wie ist Scarlett entworfen? Ihr Äußeres: Sie ist keine Südstaatenschönheit, aber ihre grünen Augen ziehen die Männer unwiderstehlich in den Bann, heißt es. Aus diesen Augen trotzt und blitzt es, denn sie ist daran gewöhnt, ihren Willen durchzusetzen. Womit wir schon bei der Psyche wären, denn die Dimensionen hängen zusammen. Durchsetzungsstark, narzisstisch, aggressiv. Das ist unsere Scarlett. Wer würde es je wagen, ihr zu widersprechen? Außer Rhett, natürlich. Und wie ist sie zu dem geworden? Schauen wir in ihr soziales Umfeld: Verwöhnt von einem irischen Vater, der bekannt dafür ist, seinen Kopf durchzusetzen. Keinen rechten Widerpart Zuhause: eine „Heilige“ als Mutter, Schwestern, die ihr nicht das Wasser reichen können, eine Nanny, die sie durchschaut, aber fast noch mehr liebt als sie sich selbst. Scarlett ist eine Figur, die vor Lebendigkeit strotzt. Geboren aus der Dreidimensionalität.
Und Rhett? Die Liebespartner werden immer gegensätzlich entworfen, damit Konflikt in die Geschichte kommt. Sie erinnern sich: Ohne Konflikt kein Drama, ohne Drama keine Geschichte. Rhett hat Humor (Scarlett gar nicht), lebt seine schillernde Persönlichkeit auch nach außen (Scarlett ist eine Heuchlerin), wir erfahren fast nichts über seine Familie (Tara bedeutet Scarlett alles) usw. Daraus lassen sich Konflikte bauen.
Aber Liebespartner brauchen noch mehr. Sie brauchen so was wie einen Klickverschluß, etwas, das die beiden unwiderruflich aneinander bindet. Bis dass der Tod euch scheidet – ja, das kann die Ehe sein, das können Kinder sein, der gemeinsame Besitz, richtig guter Sex, die einsame Insel, auf der sie gestrandet sind ... aber wir sind bei der Figurenentwicklung, und wir wollen wissen, was unsere Liebespartner aneinander bindet, bevor sie etwas bindet. Was ist in Scarlett angelegt, dass es Rhett sein muss und nicht Ashley? Was macht die Anziehung von Rhett aus, einer Anziehung, der Scarlett erliegt, lange bevor sie es weiß? Wissen tun es als erstes sowieso immer die Leser – aber was wissen sie?
Die Leser wissen um die Sehnsucht jeder Figur - und diese Sehnsucht erfüllt der Liebespartner. Es ist wie im richtigen Leben. Wenn wir uns verlieben, glauben wir den Richtigen gefunden zu haben. Er oder sie sind dann alles, was wir ersehnt haben. Und irgendwann gibt es ein gutes oder böses Erwachen. Aber zurück zur Fiktion.
Was ist die Sehnsucht einer Figur? Um das zu erklären, muss ich noch einen anderen Begriff einführen, den des Ziels nämlich. Okay, da hätten wir also die Sehnsucht und das Ziel einer Figur.
Was ist Scarletts Ziel? Scarlett will Ashley heiraten und mit ihm in Twelve Oaks glücklich werden. Das Ziel einer Figur definiert ihren Handlungsbogen, oder anders: Das Ziel versucht eine Figur handelnd zu erreichen. Was macht Scarlett nicht alles, um Ashley zu bekommen: Vom Heiratsantrag bis zum gestohlenen Kuss, von der finanziellen Unterstützung bis zum Schulterschluss mit seiner Frau lässt sie nichts aus. Wir Leser wissen, dass sie mit Ashley nie glücklich werden würde, dass es ihr schnell in Twelve Oaks langweilig werden würde. Wir wissen, was Scarlett wirklich braucht. Aber sie weiß das nicht. Das ist auch gar nicht nötig, denn die Sehnsucht einer Figur betrifft ihr Unbewusstes.
Was ist Scarletts Sehnsucht?
Die Sehnsucht ist das, was die Seele einer Figur braucht, um heil zu werden. Ja, auch Figuren haben Seelen, und was die brauchen, kann manchmal recht unangenehm für die Figuren sein. Frei nach dem Motto: Figur, hast du es noch nicht verstanden? Okay, deine Seele führt dich noch tiefer in die Sch..., damit du endlich begreifst, was los ist. Die Sehnsucht steht für den emotionalen Bogen, den eine Figur in einer Geschichte beschreibt. Solange sie nicht verstanden hat, was sie wirklich braucht, ist der Weg recht steinig für die Figur. Sie soll eben wachsen, und wir alle kennen den Begriff der Wachstumsschmerzen. Hat sie es dann begriffen – was oft im dritten Akt der Fall ist – lösen sich die Probleme auf.
Grundsätzlich gilt: Am interessantesten ist es, wenn Sehnsucht und Ziel gegenläufig sind. Dann zieht es die Figur mal zum einen, mal zum anderen, zum einem, zum anderen, das macht ihren inneren Konflikt aus. Und das wollen wir doch: Konflikt, Konflikt, Konflikt – fürs Drama und für die Spannung.
Scarlett O`Haras Sehnsucht ist also Rhett Butler. Auch wenn sie es nicht weiß. Was hat er, was ihre Seele braucht? Er besitzt Authentizität - und den Mut, zu sich selbst zu stehen. Wie Scarlett ist er eine „moderne“ Figur, man könnte sie vielleicht auch „Nachkriegsfiguren“ nennen. Ashley dagegen gehört einer Zeit an, die mit dem Krieg zwischen Nord- und Südstaaten zuende geht. Scarlett und Rhett haben beide „Biss“, sie können vieles überleben, auch den Untergang der Südstaaten. So könnte sich Scarlett in Rhett wiedererkennen, aber genau das möchte sie nicht. Viel lieber will sie zum alten Süden gehören und zu Ashley. Was ihr fehlt, ist der Mut, ihre eigenen Bedürfnisse zu leben. Diesen Mut hat Rhett. Wir bewundern ihn dafür und wünschen uns, dass Scarlett von ihm lernt. Damit hat Rhett das, was Scarletts Seele braucht. Und genau deshalb sind Scarlett und Rhett ein „dreamteam“.
Der vollständige Artikel ist in der TextArt 1/2012 erschienen.
www.textartmagazin.de
Literaturhinweise:
Es gibt einen Verein zur Förderung der deutschen Liebesromanliteratur: DeLiA, die Vereinigung deutschprachiger Liebesromanautoren.
Im Internet zu finden unter www.delia-online.de
Mehr als Herz und Schmerz
Wie Liebesgeschichten gelingen
Was ist eine Liebesgeschichte?
Das Sachwörterbuch der Literatur von Gero von Wilpert sagt dazu: „Liebesroman I. Unter stofflichem Aspekt jeder Roman, dessen zentrales Thema die Liebe bildet ...“
In der Liebesgeschichte verlieben sich also zwei Menschen.
Aber - und dieses aber ist wichtig: Ihrer Verbindung steht irgendein Hindernis entgegen. Im klassischen Drama und manchmal auch in der Soap glauben sie zum Beispiel Bruder und Schwester zu sein und das Inzest-Tabu zu verletzen. Oder ihre Familien liegen im Streit. In zeitgenössischen Erzählungen missverstehen sie sich einfach nur oder werden durch gesellschaftliche Vorurteile - etwa gegen gleichgeschlechtliche oder gemischt rassige Paare – entzweit. Manchmal ist noch ein Dritter - oder sogar ein Vierter, Fünfter - im Spiel, der die Zweisamkeit gehörig durcheinander bringt.
Liebesgeschichten werden als Tragödien bezeichnet, wenn die Liebenden und die sie umgebende Gemeinschaft keine Möglichkeit finden, die Liebe innerhalb der Gemeinschaft wachsen zu lassen. Um eine Komödie handelt es sich, wenn es am Schluss zu einer Hochzeit oder sonstigen Vereinigung kommt, die nicht nur die Liebenden, sondern auch die Gemeinschaft eint.
Soweit die Handlung.
Das Spektrum für Liebesgeschichten ist breit. Es reicht von guter Unterhaltungsliteratur bis zu dem, was man als literarisch anspruchsvoll bezeichnet. Natürlich ist auch das Triviale vertreten, mehr als die Hälfte aller Heftromane sind Liebesgeschichten. Und so fährt Gero von Wilpert fort: „Liebesroman II. im engeren Sinne die häufigste Gattung der Trivialliteratur für weibliche Leser, die meist aus der Sicht einer klischeehaften Heldin in typisierten Figuren und Geschehnissen, mit einer kitschigen falschen Innerlichkeit und einer preziös gespreizten, dem Banalen poetischen Anstrich verleihenden Sprache die Geschichte einer Liebe bis zum stereotypen, unvermeidlichen und unrealistischen happy end erzählt.“ Wer (trotz Wilpert) trivial sein möchte, der sei auf das Buch „Heftromane schreiben & veröffentlichen“ von Anna Basener verwiesen.
Dieser Artikel setzt der Liebesgeschichte nicht so enge Grenzen, wie Redakteure von Heftromanen das tun müssen. Sie sind gezwungen, jede Woche ein vorgegebenes Schema wieder neu auszufüllen. Aber nicht jede Liebesgeschichte muss als Heftroman gedruckt werden. Machen wir uns also frei von dem Trivialen und seinen engen Grenzen - und folgen für einen Augenblick Aristoteles. Nach ihm gibt es zwei Arten von Geschichten. Die eine ist figurenorientiert, die andere handlungsorientiert. Die Handlung einer Liebesgeschichte kennen wir schon: Zwei treffen sich, haben Probleme, bekommen sich – oder eben nicht. Das ist der Plot, und bei dem können Sie sich soviel Mühe geben, wie Sie wollen - oder wie Ronald B. Tobias es ausdrückt: „Sie können sich einen Plot mit allen Tricks und Kniffen ausdenken – solange Ihre Liebenden nicht überzeugend wirken, fallen Sie damit auf die Nase.“ Und: „Eine Liebesgeschichte funktioniert, wenn die Chemie zwischen den Liebenden stimmt.“
Was schließen wir daraus?
Eine gute Liebesgeschichte ist nicht handlungsorientiert. Nein, eine gute Liebesgeschichte ist figurenorientiert. Auf die Figuren kommt es an. Daher ist es in diesem Genre besonders wichtig, Figuren sorgfältig zu entwickeln. Wir müssen wissen, woher unsere Figuren kommen und wer sie sind, damit wir wissen, wohin sie wollen und wen sie anziehend finden. Lajos Egri hat mit seiner Idee von der Dreidimensionalität gezeigt, wie Figuren entwickelt werden können. Diese Dreidimensionalität umfasst die Physis, die Psyche und das soziale Umfeld der Figur.
Was bedeutet das?
Schauen wir uns eines der bekanntesten Liebespaare der Unterhaltungsliteratur an: Scarlett O`Hara und Rhett Butler aus „Vom Winde verweht“ von Margaret Mitchell. Wie ist Scarlett entworfen? Ihr Äußeres: Sie ist keine Südstaatenschönheit, aber ihre grünen Augen ziehen die Männer unwiderstehlich in den Bann, heißt es. Aus diesen Augen trotzt und blitzt es, denn sie ist daran gewöhnt, ihren Willen durchzusetzen. Womit wir schon bei der Psyche wären, denn die Dimensionen hängen zusammen. Durchsetzungsstark, narzisstisch, aggressiv. Das ist unsere Scarlett. Wer würde es je wagen, ihr zu widersprechen? Außer Rhett, natürlich. Und wie ist sie zu dem geworden? Schauen wir in ihr soziales Umfeld: Verwöhnt von einem irischen Vater, der bekannt dafür ist, seinen Kopf durchzusetzen. Keinen rechten Widerpart Zuhause: eine „Heilige“ als Mutter, Schwestern, die ihr nicht das Wasser reichen können, eine Nanny, die sie durchschaut, aber fast noch mehr liebt als sie sich selbst. Scarlett ist eine Figur, die vor Lebendigkeit strotzt. Geboren aus der Dreidimensionalität.
Und Rhett? Die Liebespartner werden immer gegensätzlich entworfen, damit Konflikt in die Geschichte kommt. Sie erinnern sich: Ohne Konflikt kein Drama, ohne Drama keine Geschichte. Rhett hat Humor (Scarlett gar nicht), lebt seine schillernde Persönlichkeit auch nach außen (Scarlett ist eine Heuchlerin), wir erfahren fast nichts über seine Familie (Tara bedeutet Scarlett alles) usw. Daraus lassen sich Konflikte bauen.
Aber Liebespartner brauchen noch mehr. Sie brauchen so was wie einen Klickverschluß, etwas, das die beiden unwiderruflich aneinander bindet. Bis dass der Tod euch scheidet – ja, das kann die Ehe sein, das können Kinder sein, der gemeinsame Besitz, richtig guter Sex, die einsame Insel, auf der sie gestrandet sind ... aber wir sind bei der Figurenentwicklung, und wir wollen wissen, was unsere Liebespartner aneinander bindet, bevor sie etwas bindet. Was ist in Scarlett angelegt, dass es Rhett sein muss und nicht Ashley? Was macht die Anziehung von Rhett aus, einer Anziehung, der Scarlett erliegt, lange bevor sie es weiß? Wissen tun es als erstes sowieso immer die Leser – aber was wissen sie?
Die Leser wissen um die Sehnsucht jeder Figur - und diese Sehnsucht erfüllt der Liebespartner. Es ist wie im richtigen Leben. Wenn wir uns verlieben, glauben wir den Richtigen gefunden zu haben. Er oder sie sind dann alles, was wir ersehnt haben. Und irgendwann gibt es ein gutes oder böses Erwachen. Aber zurück zur Fiktion.
Was ist die Sehnsucht einer Figur? Um das zu erklären, muss ich noch einen anderen Begriff einführen, den des Ziels nämlich. Okay, da hätten wir also die Sehnsucht und das Ziel einer Figur.
Was ist Scarletts Ziel? Scarlett will Ashley heiraten und mit ihm in Twelve Oaks glücklich werden. Das Ziel einer Figur definiert ihren Handlungsbogen, oder anders: Das Ziel versucht eine Figur handelnd zu erreichen. Was macht Scarlett nicht alles, um Ashley zu bekommen: Vom Heiratsantrag bis zum gestohlenen Kuss, von der finanziellen Unterstützung bis zum Schulterschluss mit seiner Frau lässt sie nichts aus. Wir Leser wissen, dass sie mit Ashley nie glücklich werden würde, dass es ihr schnell in Twelve Oaks langweilig werden würde. Wir wissen, was Scarlett wirklich braucht. Aber sie weiß das nicht. Das ist auch gar nicht nötig, denn die Sehnsucht einer Figur betrifft ihr Unbewusstes.
Was ist Scarletts Sehnsucht?
Die Sehnsucht ist das, was die Seele einer Figur braucht, um heil zu werden. Ja, auch Figuren haben Seelen, und was die brauchen, kann manchmal recht unangenehm für die Figuren sein. Frei nach dem Motto: Figur, hast du es noch nicht verstanden? Okay, deine Seele führt dich noch tiefer in die Sch..., damit du endlich begreifst, was los ist. Die Sehnsucht steht für den emotionalen Bogen, den eine Figur in einer Geschichte beschreibt. Solange sie nicht verstanden hat, was sie wirklich braucht, ist der Weg recht steinig für die Figur. Sie soll eben wachsen, und wir alle kennen den Begriff der Wachstumsschmerzen. Hat sie es dann begriffen – was oft im dritten Akt der Fall ist – lösen sich die Probleme auf.
Grundsätzlich gilt: Am interessantesten ist es, wenn Sehnsucht und Ziel gegenläufig sind. Dann zieht es die Figur mal zum einen, mal zum anderen, zum einem, zum anderen, das macht ihren inneren Konflikt aus. Und das wollen wir doch: Konflikt, Konflikt, Konflikt – fürs Drama und für die Spannung.
Scarlett O`Haras Sehnsucht ist also Rhett Butler. Auch wenn sie es nicht weiß. Was hat er, was ihre Seele braucht? Er besitzt Authentizität - und den Mut, zu sich selbst zu stehen. Wie Scarlett ist er eine „moderne“ Figur, man könnte sie vielleicht auch „Nachkriegsfiguren“ nennen. Ashley dagegen gehört einer Zeit an, die mit dem Krieg zwischen Nord- und Südstaaten zuende geht. Scarlett und Rhett haben beide „Biss“, sie können vieles überleben, auch den Untergang der Südstaaten. So könnte sich Scarlett in Rhett wiedererkennen, aber genau das möchte sie nicht. Viel lieber will sie zum alten Süden gehören und zu Ashley. Was ihr fehlt, ist der Mut, ihre eigenen Bedürfnisse zu leben. Diesen Mut hat Rhett. Wir bewundern ihn dafür und wünschen uns, dass Scarlett von ihm lernt. Damit hat Rhett das, was Scarletts Seele braucht. Und genau deshalb sind Scarlett und Rhett ein „dreamteam“.
Der vollständige Artikel ist in der TextArt 1/2012 erschienen.
www.textartmagazin.de
Literaturhinweise:
- Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Kröner Verlag, Stuttgart, 2001
- Carol S. Pearson, Die Geburt des Helden in uns, Knaur, München, 1993
- Anna Basener, Heftromane schreiben & veröffentlichen, Autorenhaus Verlag, Berlin, 2010
- Ronald B. Tobias, 20 Masterplots: woraus Geschichten gemacht sind, Zweitausendeins, Frankfurt a. M., 1999
- Lajos Egri, Literarisches Schreiben, Dramatisches Schreiben, Autorenhaus Verlag, Berlin, 1986
- Angeline Bauer, Liebesromane schreiben, Autorenhaus Verlag, Berlin, 2004
- Elizabeth Benedict, Erotik schreiben, Autorenhaus Verlag, 2002
- Rebecca McClanahan, Schreiben wie gemalt, Zweitausendeins, Frankfurt a. M., 2002
Es gibt einen Verein zur Förderung der deutschen Liebesromanliteratur: DeLiA, die Vereinigung deutschprachiger Liebesromanautoren.
Im Internet zu finden unter www.delia-online.de