Fantasy-Figuren und ihre Entwicklung
Auch Zwerge brauchen ihre Biografie
Woran erkennt man gute Fantasy-Figuren?
Einerseits an ihrer Unverwechselbarkeit, andererseits an ihrer Universalität.
Was heißt das?
Figuren können unter zwei Aspekten betrachtet werden: einerseits als Charaktere, andererseits als dramatische Funktionen. Als Charaktere sind sie unverwechselbar, haben sie Eigenheiten, die sich ins Gedächnis der Leser einbrennen, machen sie Fehler und sind auch mal unsympathisch.
Als dramatische Funktionen erfüllen sie die Bedingungen, die das Genre an sie stellt. Sie handeln auf eine ganz bestimmte Weise, die ihrer Rolle in der Geschichte entspricht. Sie handeln also entsprechend ihrer dramatischen Funktion. Eine Figur kann in einer Geschichte mehrere solcher Funktionen erfüllen. Sie kann in einer Szene heldenhaft handeln, in einer anderen dann wieder ganz anders erscheinen. Es gibt zahlreiche dramatische Funktionen. Der Schwellenhüter ist eine, der Trickster, der Mentor, natürlich der Held. Ja, wirkliche Helden sind in der Fantasy unausweichlich. Genau wie richtige Schurken übrigens.
Das griechische Wort für Held – Heros – bedeutet seiner Wurzel nach „schützen und dienen“, so der Dramaturg Christopher Vogler. Ein Heros ist also jemand, der bereit ist, seine eigenen Bedürfnisse der Gesellschaft zu opfern. Im tiefsten Sinne liegt dem Heros oder Helden damit der Begriff der Selbstaufopferung zugrunde. Der Held ist dazu bereit, etwas sehr Wertvolles, vielleicht sein eigenes Leben, um eines Ideals oder der Gemeinschaft willen zu opfern. Daher steckt im Kern jeder Heldengeschichte eine Begegnung mit dem Tod. Selbst wenn der Held dem Tod nicht direkt ins Auge schaut, gibt es zumindest eine Todesdrohung oder einen symbolischen Tod. So kann die dramatische Funktion des Helden den Leser etwas lehren, das über die Geschichte hinausreicht, nämlich wie man mit dem Tod umgeht.
Diese dramatischen Funktionen besitzen Universalität, d.h. sie werden innerhalb unseres Kulturkreises (und oft auch darüberhinaus) verstanden. Ein anderes Wort für dramatische Funktionen ist das der sogenannten Archetypen. Von ihnen behauptete der Psychologe C.G. Jung, dass sie in unserer Seele angelegt seien, und man sie in der gesamten Welt wiederfinden könne. So sollen christliche Missionare sehr erstaunt gewesen sein, als sie in Südamerika auf eine ähnliche Geschichte der Jungfrauengeburt stießen wie die, die sie verkünden wollten.
Das führt uns zu den Ursprüngen von Fantasy. Dieses Genre hat seine Wurzeln in den Mythen, den Märchen und in der Religion. Deshalb wirken seine dramatischen Funktionen so universell. Und deshalb werden Fantasygeschichten überall verstanden und machen, wenn sie gut sind, einen tiefen Wiederhall in der Seele des Lesers. Eine bessere Leserbindung kann sich kein Autor wünschen. Das Problem ist aber, dass diese Funktionen auch oft ins Klischee rutschen, und dann sind sie plötzlich nicht mehr bindend. Im Gegenteil, der Leser wendet sich ab und sagt: Kenn ich doch schon alles.
Und damit kommen wir zu Lajos Egri.
Dieser Ungar war auch ein Dramaturg, und er hat uns gelehrt, wie man Figuren so entwickelt, dass sie einzigartig werden. Jede Figur hat ein Recht auf drei Dimensionen. Der Autor muss sich Gedanken machen über ihr Äußeres, ihre Psyche und ihr soziales Umfeld, in dem sie aufgewachsen ist und in dem sie jetzt lebt. Ja, auch Zwerge brauchen eine Biografie.
Diese drei Dimensionen hängen zusammen. Schauen wir uns Harry Potter an. Er trägt eine Brille, hat wirres Haar, ist schlacksig, dünn. Die Brille zeigt Verletzlichkeit und gleichzeitig Intelligenz, sein Haar weist auf die Ähnlichkeit mit seinem Vater hin, natürlich ist dieser Junge unbeholfen, er hat schließlich viele Jahre „unter der Treppe“ gelebt. Das deutlichste Zeichen ist aber die Narbe, die uns einerseits in seine Psyche, andererseits in seine Biografie einführt. Sie verweist auf den Fakt, dass Harry keine Eltern mehr hat, er sich aber sehnlichst eine Familie wünscht. Außerdem ist die Narbe ein Zeichen dafür, dass er verfolgt wird, dass Voldemor nicht ruhen wird, bis er auch ihn getötet hat.
Um eine Figur lebendig werden zu lassen, brauchen wir diese drei Dimensionen. Daher sollten Autoren für ihre Hauptfiguren eine Biografie zu schreiben und dann - oder auch zwischendurch - mit ihnen ein Gespräch zu führen. So absurd es klingen mag, es funktioniert. Nehmen Sie sich ein Blatt Papier und befragen Sie Ihre Figur. Manchmal wird sie Sie belügen, manchmal wird sie Sie korrigieren, aber sie wird Ihnen immer antworten.
Wenn Sie einer Figur auf diese Weise Leben eingehaucht haben, ist sie unverwechselbar. Wenn diese Figur nun entsprechend den dramatischen Funktionen handelt, haben Sie die Unverwechselbarkeit mit der Universalität vereint und ihr die besten Voraussetzungen mitgegeben, eine Fantasy-Figur zu werden, an die sich der Leser lange erinnert.
Nun wünsche ich Ihnen viel Freude beim Erschaffen der Figuren und würde mich freuen, irgendwann von Ihnen zu lesen.
Artikel aus "Elfenschrift - das kleine phantastische Literaturheftchen" Ausgabe 32, Dezember 2011
Auch Zwerge brauchen ihre Biografie
Woran erkennt man gute Fantasy-Figuren?
Einerseits an ihrer Unverwechselbarkeit, andererseits an ihrer Universalität.
Was heißt das?
Figuren können unter zwei Aspekten betrachtet werden: einerseits als Charaktere, andererseits als dramatische Funktionen. Als Charaktere sind sie unverwechselbar, haben sie Eigenheiten, die sich ins Gedächnis der Leser einbrennen, machen sie Fehler und sind auch mal unsympathisch.
Als dramatische Funktionen erfüllen sie die Bedingungen, die das Genre an sie stellt. Sie handeln auf eine ganz bestimmte Weise, die ihrer Rolle in der Geschichte entspricht. Sie handeln also entsprechend ihrer dramatischen Funktion. Eine Figur kann in einer Geschichte mehrere solcher Funktionen erfüllen. Sie kann in einer Szene heldenhaft handeln, in einer anderen dann wieder ganz anders erscheinen. Es gibt zahlreiche dramatische Funktionen. Der Schwellenhüter ist eine, der Trickster, der Mentor, natürlich der Held. Ja, wirkliche Helden sind in der Fantasy unausweichlich. Genau wie richtige Schurken übrigens.
Das griechische Wort für Held – Heros – bedeutet seiner Wurzel nach „schützen und dienen“, so der Dramaturg Christopher Vogler. Ein Heros ist also jemand, der bereit ist, seine eigenen Bedürfnisse der Gesellschaft zu opfern. Im tiefsten Sinne liegt dem Heros oder Helden damit der Begriff der Selbstaufopferung zugrunde. Der Held ist dazu bereit, etwas sehr Wertvolles, vielleicht sein eigenes Leben, um eines Ideals oder der Gemeinschaft willen zu opfern. Daher steckt im Kern jeder Heldengeschichte eine Begegnung mit dem Tod. Selbst wenn der Held dem Tod nicht direkt ins Auge schaut, gibt es zumindest eine Todesdrohung oder einen symbolischen Tod. So kann die dramatische Funktion des Helden den Leser etwas lehren, das über die Geschichte hinausreicht, nämlich wie man mit dem Tod umgeht.
Diese dramatischen Funktionen besitzen Universalität, d.h. sie werden innerhalb unseres Kulturkreises (und oft auch darüberhinaus) verstanden. Ein anderes Wort für dramatische Funktionen ist das der sogenannten Archetypen. Von ihnen behauptete der Psychologe C.G. Jung, dass sie in unserer Seele angelegt seien, und man sie in der gesamten Welt wiederfinden könne. So sollen christliche Missionare sehr erstaunt gewesen sein, als sie in Südamerika auf eine ähnliche Geschichte der Jungfrauengeburt stießen wie die, die sie verkünden wollten.
Das führt uns zu den Ursprüngen von Fantasy. Dieses Genre hat seine Wurzeln in den Mythen, den Märchen und in der Religion. Deshalb wirken seine dramatischen Funktionen so universell. Und deshalb werden Fantasygeschichten überall verstanden und machen, wenn sie gut sind, einen tiefen Wiederhall in der Seele des Lesers. Eine bessere Leserbindung kann sich kein Autor wünschen. Das Problem ist aber, dass diese Funktionen auch oft ins Klischee rutschen, und dann sind sie plötzlich nicht mehr bindend. Im Gegenteil, der Leser wendet sich ab und sagt: Kenn ich doch schon alles.
Und damit kommen wir zu Lajos Egri.
Dieser Ungar war auch ein Dramaturg, und er hat uns gelehrt, wie man Figuren so entwickelt, dass sie einzigartig werden. Jede Figur hat ein Recht auf drei Dimensionen. Der Autor muss sich Gedanken machen über ihr Äußeres, ihre Psyche und ihr soziales Umfeld, in dem sie aufgewachsen ist und in dem sie jetzt lebt. Ja, auch Zwerge brauchen eine Biografie.
Diese drei Dimensionen hängen zusammen. Schauen wir uns Harry Potter an. Er trägt eine Brille, hat wirres Haar, ist schlacksig, dünn. Die Brille zeigt Verletzlichkeit und gleichzeitig Intelligenz, sein Haar weist auf die Ähnlichkeit mit seinem Vater hin, natürlich ist dieser Junge unbeholfen, er hat schließlich viele Jahre „unter der Treppe“ gelebt. Das deutlichste Zeichen ist aber die Narbe, die uns einerseits in seine Psyche, andererseits in seine Biografie einführt. Sie verweist auf den Fakt, dass Harry keine Eltern mehr hat, er sich aber sehnlichst eine Familie wünscht. Außerdem ist die Narbe ein Zeichen dafür, dass er verfolgt wird, dass Voldemor nicht ruhen wird, bis er auch ihn getötet hat.
Um eine Figur lebendig werden zu lassen, brauchen wir diese drei Dimensionen. Daher sollten Autoren für ihre Hauptfiguren eine Biografie zu schreiben und dann - oder auch zwischendurch - mit ihnen ein Gespräch zu führen. So absurd es klingen mag, es funktioniert. Nehmen Sie sich ein Blatt Papier und befragen Sie Ihre Figur. Manchmal wird sie Sie belügen, manchmal wird sie Sie korrigieren, aber sie wird Ihnen immer antworten.
Wenn Sie einer Figur auf diese Weise Leben eingehaucht haben, ist sie unverwechselbar. Wenn diese Figur nun entsprechend den dramatischen Funktionen handelt, haben Sie die Unverwechselbarkeit mit der Universalität vereint und ihr die besten Voraussetzungen mitgegeben, eine Fantasy-Figur zu werden, an die sich der Leser lange erinnert.
Nun wünsche ich Ihnen viel Freude beim Erschaffen der Figuren und würde mich freuen, irgendwann von Ihnen zu lesen.
Artikel aus "Elfenschrift - das kleine phantastische Literaturheftchen" Ausgabe 32, Dezember 2011